Das Böse im Gehirn


Neurowissenschaftler Niels Birbaumer im Interview


Groß und bullig, mit grobschlächtigen Gesichtszügen oder klein und wendig mit hinterlistigen Augen – einen Verbrecher können wir uns vor dem inneren Auge visualisieren, doch an der Nasenspitze erkennen können wir ihn nicht – zum Glück. Denn Versuche, einen Verbrecher anhand von körperlichen oder biologischen Merkmalen auszumachen, sind aus heutiger Sicht hochproblematisch. Trotzdem schenken Forscher in jüngster Zeit bei der Untersuchung von Straftätern wieder mehr und mehr einem Organ Beachtung: dem Gehirn.

Wir haben mit dem Tübinger Neurowissenschaftler Niels Birbaumer darüber gesprochen, was im Gehirn von Schwerverbrechern passiert. Der Professor für Verhaltensneurobiologie und Klinische Psychologie an der Universität Tübingen erforscht die Gehirne von Gefängnisinsassen – und polarisiert mit der These, sogenannte „Psychopathen“ ändern zu können.

Herr Birbaumer, Sie sagen, dass Sie Psychopathen ändern können. Was sind für Sie überhaupt „Psychopathen“?
„Mörder,
Vergewaltiger -
alle diese Gehirne
sind änderbar.“
„Einen bestimmten Prozentsatz von Gewaltverbrechern, die häufig Verbrechen begehen und rückfälliger sind als andere, nennt man Psychopathen. Meistens muss man diese Leute deswegen im Gefängnis oder sonst wo verwahren. Wir haben untersucht, ob die Gehirne dieser Leute anders sind, und das sind sie. Das auffälligste im Kernspin ist das völlige Fehlen jeder Aktivität in den Furchtsystemen des Gehirns. Der Kortex ist kognitiv völlig intakt, kann alles erinnern. Was aber fehlt, ist die emotionale Begleitreaktion. Psychopathen können gar nicht mitfühlen, Empathie fehlt, die Angst vor den Konsequenzen fehlt und damit fehlt ein wesentlicher Steuerfaktor im Verhalten. Und deswegen werden diese Menschen dann sozial auffällig. In Krisensituationen, zum Beispiel in Kriegen, spielen sie allerdings eine sozial erwünschte Hauptrolle. Das war auch in der Nazizeit so.

Dann haben wir versucht, ob man diese Gehirne ändern kann, ob man die fehlenden Emotionen wieder aktivieren kann. Das kann man, und zwar bei fast allen. Und das waren zum Teil Leute, die mehrfach Menschen umgebracht haben – Mörder, Vergewaltiger – also die schlimmsten Typen, die man sich vorstellen kann. Alle diese Gehirne sind änderbar, wie bei jedem anderen Lernprozess auch.“

Das kalte Hirn? Bei sogenannten Psychopathen fehlen emotionale Reaktionen und Mitgefühl.

Auf welche Art können Sie Verbrecher so verändern, dass sie keine Straftaten mehr begehen?
„Wir verwenden dafür das Neurofeed- backverfahren. Dazu legen wir die Leute in das Kernspin. Bei Verbrechern, die im Hochsicherheitsgefängnis sind, können wir das natürlich nicht machen, da machen wir das mittels EEG.  Da sehen sie dann ihre eigene Gehirnaktivität und bekommen Aufgaben wie im Computerspiel. Zum Beispiel sollen sie einen roten Pfeil auf dem Bildschirm noch farbiger machen. Die Areale, die nicht funktionieren, müssen sie dazu aktivieren. Wenn sie eine Belohnung vom PC bekommen, wissen sie, dass sie richtig liegen. Die Probanden wissen aber nicht, wie sie das machen, da diese Hirnareale nicht verbal zugänglich sind, das ist gar nicht beschreibbar. Das ist ähnlich wie Ski- oder Radfahren lernen, das können Sie auch nicht beschreiben. Am EEG haben wir für das Erlernen der Aktivierung etwa zwanzig bis neunzig Stunden Training, manchmal mehr, manchmal weniger, im Kernspin geht es schneller.Ich kann natürlich nicht sagen, ob jemand danach ein besserer Mensch ist, dafür müsste ich ihn freilassen und sozusagen die ‚Probe aufs Exempel‘ machen. Aber würde man diese Methode rechtzeitig anwenden, könnte man Verbrechen wahrscheinlich verhindern. Die übliche Volksmeinung, dass ein Mörder ein Mörder ist und bleibt, ist Blödsinn. Das gilt für gar nichts. Und wenn jemand immer ein Mörder bleibt, dann bleiben die Umstände eben so, dass er immer ein Mörder bleibt. Aber das muss nicht sein. Aggression muss nicht sein, nichts muss sein.“
Ein Verbrecher kann sich Ihrer Meinung nach also ändern. Wie sieht für Sie denn ein Strafvollzug aus, der dafür sorgt, dass ein Mörder nicht Mörder bleibt?
„Die Länder, die einen liberalen, mit Training verbundenen Strafvollzug haben, schneiden immer besser ab, wenn es um Wiederholungstäter geht. In Skandinavien sitzt ein Mörder nicht länger als zwanzig Jahre, wird intensiv trainiert und die Rückfallquote ist weit geringer als in allen anderen Ländern. Das in dieser Hinsicht schlimmste Land der Welt sind die Vereinigten Staaten. Da werden viele rückfällig. Da gibt es kein Training und keinerlei Betreuung im Gefängnis – die werden eingesperrt und wieder raus gelassen, oder  auch nicht mehr. Das ist natürlich keine Methode. Deutschland liegt ein bisschen in der Mitte, aber die Skandinavier sind deutlich besser. Sie sind auch keine besseren Menschen als wir. Aber sie folgen in der Politik den Fakten, und das tun die Amerikaner nicht. Auch wenn sie (Anm. d. Red.: die Amerikaner) so tun, als würden sie sich an Fakten orientieren, sind sie tatsächlich sehr stark von religiösen Einstellungen, in diesem Fall von fundamental-christlichen Einstellungen, beherrscht. Und in diesen religiösen Einstellungen gibt es kein Training, da ist der Mensch entweder schlecht oder gut und dabei bleibt es.“

Gefangen im eigenen Gehirn und für immer hinter Gittern? Training per Neurofeedback kann der Schlüssel zur Veränderung von Verbrechern sein.

Wenn man die Methoden hat, um Verbrecher zu ändern – sollte man dann in Gefängnisse gehen und dies tun?
„Klar, natürlich. Ich meine, im Gefängnis ist es ein bisschen problematisch, weil dort natürlich immer ein Zwang ausgeübt wird. Bei den Techniken, die wir haben, muss jemand aber freiwillig mitmachen. Der Häftling kann sich zwar da hinhocken und das Neurofeedback-Training machen, aber das heißt noch lange nicht, dass es funktioniert. Wenn jemand motiviert ist, das zu machen, dann funktioniert es auch. Ich kann aber im Grunde zu den Verfahren, die wir haben, niemanden zwingen. Ich kann sagen: ‚du musst dich hinsetzen und das lernen‘, aber wenn jemand nicht motiviert ist, dann tut er das nicht. Da kann man mich reinlegen, und ich merke das nicht. Von daher sind diese nicht-invasiven Verfahren ethisch relativ unproblematisch.
Was entscheidet darüber, ob ein Mensch zum Verbrecher wird, sei er ein sogenannter „Psychopath“ oder ein „normaler“ Mensch?
„Mörder oder Bankdirektor –
das hängt auch vom Zufall ab.“
„Menschen mit psychopathischen Merkmalen sind nicht alle Verbrecher. Leute, die erfolgreich sind, rücksichtslos sind, die sich in einer kompetitiven Gesellschaft gut bewähren, sind von der Typologie her oft dieselben. Ob so einer ins Gefängnis kommt oder Bankdirektor wird, das hängt zum einen davon ab, wie er erzogen wurde, welche Familie er hat, wie viel Geld er hat – vor allem davon wie viel Geld er hat. Und es hängt natürlich auch einfach von Zufällen ab. Wir sehen oft, dass diese ‚Karrieren‘ einen Sprung machen. Jemand ist vor der Pubertät ein schwerer Psychopath, stiehlt, lügt und so weiter, und plötzlich kriegt er den Fuß in die Tür von irgendwas, wird besser ausgebildet, und auf einmal ist er Bankdirektor.

Andererseits kann jeder zum Verbrecher werden, ohne ein Psychopath zu sein. Die Milgram-Experimente haben gezeigt, dass bei gewissem sozialen Druck 60 bis 70 Prozent der Bevölkerung in der Lage sind, andere umzubringen, auch ohne psychopathische Merkmale zu haben. Gehorsam und Angst spielen dabei eine Rolle. Das Risiko, intensive Gewalttaten zu begehen, ist mit psychopathischen Merkmalen allerdings deutlich höher.“

Stabile Verbindungen, ausgetretene Pfade: Die Arbeitsweise des Gehirns bei einem Erwachsenen zu ändern, ist nicht leicht.

Wo liegt denn überhaupt die Grenze zwischen einem „gesunden“ Menschen mit ausgeprägten Persönlichkeitsmerkmalen und einem „kranken“ Psychopathen?
„In der Realität ist es schwer, zwischen ‚krank‘ und ‚gesund‘ zu unterscheiden. Bei psychiatrischen und psychologischen Sachen ist es schwierig, die Grenze zu ziehen, ob jemand beispielsweise ängstlich ist oder Panik hat – das ist immer eine fließende Grenze. Oder bei Süchtigen die Grenze zwischen einer echten Sucht und einer Gewohnheit zu finden. Das ist nicht leicht festzulegen. Ich beschäftige mich ja auch mit gelähmten Menschen, die mithilfe des Neurofeedbacks wieder mit ihrer Umwelt kommunizieren können. Diese Patienten sind einfach vollständig gelähmt, werden künstlich ernährt und künstlich beatmet. Da braucht man nicht mehr zu diskutieren. Deshalb fühle ich mich mit diesen Patienten am wohlsten. Da weiß ich, was los ist und wo es hingehen muss. Ich weiß, wenn ich nicht helfen kann, dann geht das ganze Leben dieses Menschen und seiner Familie schief. Da tut man sich dann leichter. Und dann kann ich später vielleicht darüber nachdenken, das auch bei psychiatrischen oder psychologischen Problemen anzuwenden. Das tun wir dann ja auch, wie bei den Verbrechern. Aber so richtig wohl ist einem dabei oft nicht.“

Das Böse in mir? Unter bestimmten Umständen kann fast jeder zum Mörder werden.

Terrorgruppen wie der IS üben momentan eine starke Anziehung auf einige junge Männer und Frauen aus. Wie erklären Sie als Neuropsychologe diese Bereitschaft, andere und unter Umständen auch sich selbst umzubringen?
„Die große Mehrheit ist jung, das heißt, dass ein hoher Spiegel an Androgenen in jungen Jahren bei Männern und Frauen dieses Verhalten begünstigt. Und man hat untersucht, dass die jungen Männer, die aus Europa zum IS hinunterwandern, oft Psychopathen sind. Das sind Leute, denen kotzlangweilig ist – Sensibilität für Langeweile und Sensationssucht sind typische Psychopathiemerkmale. Jemanden umzubringen, ist in dieser Langeweile dann ein anregendes Ereignis und wenn jemand sonst nichts hat, kann das zu einem großen Belohnungsreiz werden. Oft sind es auch ökonomisch deprivierte Leute, meistens wenig intelligent, mit nur wenig Kontrollmechanismen im Gehirn. Wer psychopathisch ist und wenig emotionale Reaktionen in Bezug auf andere hat, hat auch keine Angst um sich selber. Das ist ein Muster von Eigenschaften, das man vorhersagen kann. Diese Leute ändern sich nicht dadurch, dass sie Terroristen werden, sie waren vorher genauso. Nur in der Umgebung, in die sie dann kommen, können sie innerhalb von Tagen zigtausend Leute umbringen. Dazu wären sie schon davor in der Lage, nur ist das in unserer demokratischen Umgebung Gott sei Dank nicht so leicht möglich. Dieselben Leute findet man hier meistens als Randalierer oder in rechtsradikalen Parteien. Bei uns kann man sie in begrenztem Maße im Zaum halten. Aber in einer anderen Umgebung werden die zu Raubtieren.“
Was passiert, wenn ein Mensch einmal zu so einem Raubtier geworden ist? Denken wir zum Beispiel an Kriegsverbrecher im zweiten Weltkrieg – ändert sich deren Gehirn, wenn der Krieg vorbei ist oder begehen sie nur aufgrund der äußeren Umstände keine Verbrechen mehr?
Das Gehirn der Leute, die aus dem zweiten Weltkrieg zurückgekommen sind und massenweise Leute umgebracht hatten, hat sich danach überhaupt nicht verändert. Die meisten von ihnen haben ja auch gar keine Schuldgefühle im wahren Sinne des Wortes gehabt. Aber natürlich mussten sie ihr  Verhalten ändern, sonst hätten sie nicht überlebt in einer demokratischen Umgebung. Im Grunde ihres Denkens sind sie aber die Gleichen geblieben. Das liegt jedoch nicht daran, dass die Leute so schlecht sind. Sondern daran, dass die Lernvorgänge, die ihnen nachher angeboten wurden, viel zu schwach waren, um das Gehirn zu ändern. Wenn Sie wollen, dass das Gehirn bei einem erwachsenen Menschen, das dieselben Dinge schon über tausend Mal gemacht hat, wirklich dauerhaft seine Arbeitsweise ändert,  ist das genauso, wie eine überaus gut gelernte Gewohnheit ablegen zu wollen. Natürlich gibt es aber in der Literatur in der Tat Beispiele von Leuten, bei denen ein Lernprozess stattgefunden hat, die das echt und emotional  im Gehirn bereut haben, aber das war eine Minderheit.“

Ungewisse Zukunft: Die Neurowissenschaft kann helfen, aber in den falschen Händen auch Schaden anrichten.

Für wie wahrscheinlich und ethisch bedenklich halten Sie die Möglichkeit, dass Methoden zur Veränderung der Persönlichkeit in der Zukunft verstärkt eingesetzt werden und für jedermann verfügbar sein könnten?
„Google und das Militär
haben Rieseninteresse
an der Neurowissenschaft“
„Im Prinzip kann man mithilfe neurologischer Erkenntnisse wie zum Beispiel dem Neurofeedback fast jede Eigenschaft ändern. Das ist ein Kostenfaktor und auch eine politische, ethische Frage. Will ich das denn eigentlich? Wird die Gesellschaft dadurch besser? Selbst wenn ich das Geld hätte und Sie mich dann fragen würden, ob wir das jetzt bei jedem auch so machen sollen, hätte ich da so meine Zweifel. Bei sehr gut definierten Gruppen, bei denen ich weiß, dass alles in die Hosen geht, wenn sich nichts ändert, da ist die Entscheidung leicht, und auf die konzentrieren wir uns ja. Wenn mir aber jemand sagt, das wenden wir jetzt bei allen an – die Studenten können sich nicht konzentrieren, da passen doch Ihre Konzentrationsmethoden wunderbar hinein – sage ich immer Nein. Das tue ich nicht. Ich hab noch nie gesunde Leute behandelt. Weil ich nicht weiß, was ich damit anrichte.

Aber es gibt viele Leute, die das im großen Stil anwenden wollen, Google und das Militär haben natürlich Rieseninteresse an dem Zeug. Und es gibt keinen Blödsinn, den die Menschheit nicht gemacht hat. Das wird auch außerhalb von therapeutischen Zwecken verwendet werden, da können Sie sicher sein. Nur die Frage, ob es Fuß fasst, ist dann eine andere. Das hängt vom Erfolg ab und den Nebeneffekten. Es gibt viele Technologien, die wieder eingegangen sind, weil sie den Leuten keinen Spaß gemacht haben. Aber darüber kann man keine Vorhersage machen, es kann leicht sein, dass sich der Einsatz in größerem Stil etabliert. Das geht dann sicher nicht so gut aus.“

Nils Birbaumer

Niels Birbaumer, geboren 1945 in der ehemaligen Tschechoslowakei, studierte und promovierte im Fach Psychologie an der Universität Wien. Seine Habilitation in „Physiologischer Psychologie” erfolgte an der Universität München. Seit 1993 ist Birbaumer Professor und Direktor des Instituts für Klinische Psychologie und Verhaltensneurobiologie der Universität Tübingen und ist an zahlreichen internationalen Universitäten tätig. Schwerpunkte seiner Forschung sind unter anderem Gehirn-Computer-Schnittstellen und sowie die Neurobildgebung von Lernprozessen und Emotionen. Außerdem beschäftigt er sich mit der Neurobiologie von chronischen Schmerzen und Lernprozessen sowie der Plastizität des Gehirns. Birbaumers Institut ist weltweit führend auf dem Forschungsgebiet der Selbstregulation von Hirntätigkeiten. Für seine wissenschaftliche Arbeit erhielt er zahlreiche Auszeichnungen.
Zurück zum Hauptartikel und Fotostrecke

Autoren

Natalie Steinmann
Michaela Göbels
Anne-Mareike Täschner