Willst du?


Willensfreiheit
zwischen Philosophie und Neurowissenschaft

Haben Menschen einen freien Willen? Das ist eine Frage, die insbesondere die Philosophie schon seit der Antike beschäftigt. Im 20. Jahrhundert hat auch die Neurowissenschaft begonnen, sich damit zu beschäftigen. Dabei sind vereinzelt provokante Thesen herausgekommen, zum Beispiel: „Menschen haben keinen freien Willen, weil ihr Gehirn für sie entscheidet.“ Kann man das aber wirklich so sagen? Wir sind dem nachgegangen. Was wir rausgefunden haben und was das im Alltag bedeutet, findet ihr hier.

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I want to ride my bicycle



Vielen Dank an die Bäckerei Fischer in der Tübinger Südstadt

In dem Video habt ihr gesehen, wie jemand ein Fahrrad klaut. Für uns stellt sich nun die Frage, ob die Diebin auch was dafür kann. Ist ihr Wille frei genug, um sie für die Tat verantwortlich zu machen? Oder handelt sie fremdbestimmt? Zu der Diskussion gibt es verschiedene Meinungen. Wir stellen sie hier vor.

Sichtweisen auf den freien Willen



    Determinismus




    Mit der Frage, ob der Mensch einen freien Willen besitzt, haben sich schon die Philosophen der Antike beschäftigt. Eine Position dazu ist der Determinismus - er geht davon aus, dass wir fremdbestimmt sind und gar nicht selbst entscheiden. Der Tübinger Philosophie Professor Johannes Brachtendorf erklärt den Determinismus wie folgt: Vertreter dieser Position sind der Ansicht, dass alle Vorgänge im Universum seit Anbeginn der Zeit miteinander in Verbindung stehen. Die Zukunft stünde somit schon fest und die Existenz eines freien Willens wäre nicht möglich. Physische Veränderungen in der Welt haben physische Ursachen, der ganze Kosmos sei eine Verkettung von Ursache und Wirkung. So wäre auch jedes menschliche Handeln (und somit Wollen) vorherbestimmt.


    Ein Neurowissenschaftler “beweist”
    unfreiwillig den Determinismus

    Der US-amerikanische Physiologe Benjamin Libet wollte 1979 mit einem Experiment beweisen, dass der freie Wille existiert: Die Probanden hatten die Anweisung, auf einen Knopf vor sich zu drücken und zwar wann sie wollten. Das „wann“ stellte den Akt der Willensentscheidung dar. Dabei sollten sie sich merken, wann sie sich dafür entschieden haben, indem sie die Zeit ab lasen. Mit einem Elektroenzephalogramm (EEG) hat Libet gleichzeitig die Bereitschaftspotenziale im Gehirn der Probanden gemessen. Diese Potenziale zeigen die Aktivität von Nervenzellen an - konkret war es hier die Aufforderung an die Handmuskulatur sich zu bewegen. Entgegen seinen Erwartungen stellte Libet fest, dass sich das Bereitschaftspotenzial schon messen ließ, bevor sich der Proband bewusst dafür entschied, den Knopf zu drücken. Damit hatte Libet das Gegenteil dessen gezeigt, was er wollte. Kritiker, wie der Kognitionswissenschaftler Hanspeter Mallot, sind der Meinung, dass die Entscheidung, wann jemand auf einen Knopf drückt, zu trivial sei, um daraus ableiten zu können, dass es keine Willensfreiheit gibt. Es sei eine Entscheidung, die keinerlei Auswirkungen auf die Existenz hat.


    Folgen für die Gesellschaft

    Die Sichtweise, dass Menschen keinen freien Willen haben, hätte weitreichende Konsequenzen für das Zusammenleben: Wenn man nur die Gehirnstruktur von Menschen untersuchen müsste, um ihr Verhalten vorherzusagen, landet man bei “Minority Report”. Die Hirnforscher Gerhard Roth und Wolf Singer, vertreten diese These. Denn das Gehirn sei ein physisches Organ, in einer von den Naturgesetzen determinierten Welt. In einer deterministischen Welt wäre kein Platz mehr für Moral und Vernunft. „Keiner kann anders, als er ist“, konstatiert der deutsche Psychologe und Kognitionswissenschaftler Wolfgang Prinz. Erzieher und Pädagogen wären überflüssig, denn man könnte die feststehenden Verschaltungen im Hirn nicht ändern, so Brachtendorf. Dieser Logik entsprechend, wären Menschen nicht verantwortlich für ihr Handeln und könnten für Fehlverhalten nicht zur Rechenschaft gezogen werden. Aber so determiniert ist die Welt vielleicht doch nicht. Singer räumte in einem Interview mit der SZ ein, dass wir gar nicht wissen können, was wir alles noch nicht wissen. Außerdem gibt es noch andere Meinungen und Positionen zur Willensfreiheit, wie den Libertarismus und den Kompatibilismus. Klicke auf die Links und erfahre mehr.

  • Libertarismus

    Während der Determinismus davon ausgeht, dass menschliches Verhalten vorherbestimmt ist, vertritt der Libertarismus die gegenteilige Position. Dem Determinismus zufolge resultieren alle Ereignisse aus einer Ursache-Wirkungs-Kette mit Ursachen, die sich dem Einfluss des Individuums entziehen. Dem widerspricht der Libertarismus: „Dieses Bild der Wirklichkeit kann nicht stimmen, denn offensichtlich ist es so, dass wir Menschen Entscheidungen treffen können, wir können uns entscheiden A zu tun oder B zu tun. Wenn das so ist, dann kann es nicht seit Beginn des Kosmos schon feststehen, ob A getan wird oder B“, meint Johannes Brachtendorf, Professor für Philosophie an der katholischen Fakultät der Universität Tübingen.

    Seiner Meinung nach haben Menschen einen freien Willen – was ja auch im Selbstverständnis der Menschen angelegt sei. Schließlich glauben wir, dass wir Entscheidungen treffen und damit unser Leben verändern können. Es könne also nicht sein, dass die physikalische Welt unser Denken und unsere Entscheidungen bestimme.


    Gründe sind nicht zwingend
    eine freiheitliche Sichtweise

    Die Willensfreiheit des Menschen ist laut Brachtendorf dadurch geprägt, dass Menschen zwischen Alternativen wählen können. Es gibt nun für jede Entscheidung Gründe, die für oder gegen die einzelnen Möglichkeiten sprechen. Laut Brachtendorf “liegt es letzten Endes an jedem von uns selbst, welchem der Gründe wir mehr Gewicht zumessen. Und das können wir offenbar aus uns selbst heraus entscheiden.” Die Gründe würden somit nicht zwingend auf eine bestimmte Entscheidung hinführen - wie es im Kompatibilismus und Determinismus der Fall ist. Viel mehr machten die Gründe Personen nur "geneigt", sich auf eine Art zu entscheiden - ein entscheidender Punkt für die Willensfreiheit.

    Aus diesem Grund würde Brachtendorf, als ein Vertreter des Libertarismus, sagen, dass die Fahrraddiebin im Video eine freie Entscheidung getroffen hat. Einerseits sehe sie ein Fahrrad, das sie gut gebrauchen kann, weil sie in Eile ist. Andererseits wisse sie, dass man Fahrräder, die vor einer Bäckerei stehen, nicht einfach mitnimmt. Daraus folgt für Brachtendorf: “Sie weiß beides und entscheidet sich für den selbstsüchtigen Grund. Sie befolgt einfach nur ihr eigenes Interesse. Eine solche Person hat frei entschieden, was sie tun wird. Wenn sie aufgegriffen würde, dann würde die Person sicherlich als Fahrraddieb sanktioniert - und zwar zu Recht.”

    In der Neurowissenschaft findet man diesen reinen Libertarismus eher nicht. Denn selbst wenn wir nicht von unseren Gehirnen fremdbestimmt sind, so wirken doch immer physische und biologische Prozesse auf uns ein und leiten unser Handeln.

  • Kompatibilismus




    Auf der einen Seite dieFreiheit des menschlichen Willens, auf der anderen Seite der Determinismus. Der Kompatibilismus versucht diese zwei inkompatiblen Ansichten zu vereinen. Ursprünge des Kompatibilismus finden sich bereits im 17. und 18. Jahrhundert. Heute ist vor allem der Autor und Philosoph Peter Bieri ein bekannter Vertreter des Kompatibilismus. Frühe Formen des Kompatibilismus - wie sie von David Hume und Thomas Hobbes vertreten werden - sind vor allem durch die Definition von Freiheit als Handlungsfreiheit geprägt. Dass man also das tun kann, was man will und nicht daran gehindert wird.


    Die Stufen der Freiheit

    Der moderne Kompatibilismus - wie ihn Harry Frankfurt und Georg Edward Moore geprägt haben - geht weiter und befasst sich mit der Willensfreiheit. Hier liegt der Clou des Kompatibilismus, wie der Tübinger Philosoph Johannes Brachtendorf erklärt: “Wollen ist kein einfacher Vorgang, sondern es ist ein Vorgang der sich auf mindestens zwei Ebenen abspielt.” Auf der unteren ersten Ebene bilden sich Wünsche - als Reaktionen auf unseren Alltag oder auf Grund von Gewohnheiten. Zum Beispiel: “Es ist warm” → “Ich will ein Eis”. Auf der höheren, zweiten Ebene reflektieren wir das Wollen der ersten Ebene. Hier befinden sich Prinzipien, Überzeugungen und Werte. Handlungen ergeben sich somit nicht auf Grund einer simplen Reaktion auf einen äußeren Reiz, sondern basieren auf Überlegungen. Das gibt uns die Möglichkeit, anders als das Wollen der ersten Ebene zu entscheiden. Genau das macht für den Kognitionswissenschaftler Hanspeter Mallot Freiheit aus:


    “Freiheit bedeutet, dass man sich von schlechten Entscheidungen, von einfachen Gedanken, von Stereotypen, von dem zu denken was man immer schon denkt, und so weiter entfernt. Davon kann man sich frei machen und dann versuchen, bessere Entscheidungen zu treffen. Damit ist Freiheit ein Prozess der Entscheidungsfindung, der mehr oder weniger gute Ergebnisse generieren kann.”


    Mallot kommt zu dem Ergebnis, dass Freiheit ein “gradueller Begriff” sei: menschliche Handlungen sind demnach unterschiedlich frei. Reflexe beispielsweise seien es gar nicht. Je weitreichender jedoch eine Entscheidung für eine Person sei - beispielsweise die Wahl des Studienfachs - und je mehr man Gründe abwägt, desto freier sei die Entscheidung (s. Libertarismus). Das führt ihn zu der Schlussfolgerung, dass sich eine freie Entscheidung darüber definiert, dass “man bereit ist Verantwortung dafür zu übernehmen”.


    Der weiche Determinismus

    Willensfreiheit ist demnach nicht abhängig von unserer Umwelt, sondern von unserer Persönlichkeit. Damit stellt sich die Frage, wo der Ursprung unsere Wünsche, Prinzipien oder Überzeugungen liegt. Im Kompatibilismus werden sie durch den sozialen Kontext und die Naturgesetze geformt. Das ist der Grund, weshalb der Kompatibilismus als “weicher Determinismus” bezeichnet wird. Der Wille und unsere Entscheidungen bleiben letztendlich ein kausales, determiniertes Produkt. Das man sich theoretisch anders entscheiden könnte, spielt für den Kompatibilismus keine Rolle, denn ”Freiheit, das ist einfach die Fähigkeit von der zweiten Ebene aus Entscheidungen über die erste Ebene treffen zu können, das ist Freiheit”, so Brachtendorf über den Kompatibilismus.

    Die Willensfreiheit des Kompatibilismus basiert somit auf der Idee, dass wir uns auf Grund unseres (determinierten?) Charakters und nicht auf Grund von Instinkten entscheiden. Der Grad an Willensfreiheit ist somit auch von unserem Wissen und von unserer Reflexionsfähigkeit abhängig.

    Für die Fahrraddiebin bedeutet das, das sie für ihre Tat verantwortlich ist. Denn sie hat zumindest kurz darüber nachgedacht, welchem Grund sie mehr Gewicht beimisst: dem Zeitdruck oder ihrem Gewissen.

  • Monismus-Dualismus-Debatte




    Trifft das Gehirn Entscheidungen für den Menschen, ohne dass er sich dessen bewusst ist? Man kann auf diese Frage auch eine ganz andere Sichtweise haben. Für die Neurowissenschaft zum Beispiel stellt sich die Frage nicht, ob der Körper den Geist bestimmt oder umgekehrt. Für sie ist alles eins - Körper und Geist lassen sich nicht getrennt betrachten.

    Benjamin Libet fand in seinem Experiment, dass die Erregungspotentiale der Nervenzellen – also die „Anweisung“ an den Muskel, sich zu bewegen – bereits ansteigen, bevor sich die Probanden der Entscheidung bewusst waren. Das interpretierte beispielsweise Wolf Singer im Nachhinein als Widerspruch zu der Annahme, Menschen hätten einen freien Willen. Denn demnach hätte das Gehirn eine Entscheidung bereits eine Weile vor dem Zeitpunkt getroffen, an dem ein Mensch glaubt, sich zu entscheiden.


    Alles ist eins
    Die Perspektive der Neurowissenschaft

    Dem widerspricht die heutige Neurowissenschaft. Hanspeter Mallot, Professor für kognitive Neurowissenschaft an der Universität Tübingen, ist der Meinung, dass dem Experiment eine Fehlannahme zu Grunde liegt: der Leib-Seele-Dualismus. Dahinter verbirgt sich die Annahme, der rein physische Körper und die Seele eines Menschen seien zwei getrennte Dinge. Das ist eine gängige Vorstellung für viele Menschen. Diese Unterscheidung hat laut Mallot jedoch keinen Sinn, denn “ein Gedanke ist nichts anderes als ein physiologischer Prozess”. In der Neurobiologie gehe man daher von der monistischen Annahme aus „Ich bin mein Gehirn”. Um bei Libet zu bleiben, kann man Erregungspotential und Willensentscheidung also gar nicht trennen, weil sie im Grunde eins sind. Mallot interpretiert die Ergebnisse des Libet-Experiments also ein wenig anders: “Dieses Experiment widerlegt eigentlich weniger die Willensfreiheit als den Dualismus. Also es ist nicht so, dass der Geist den Körper determiniert.“

    Aus neurowissenschaftlicher Perspektive würden Menschen nicht von ihrem Gehirn beeinflusst. Denn es ist keine von außen wirkende, nicht zu beeinflussende Macht ist. Viel mehr werden Entscheidungen im Gehirn getroffen - neurologische Vorgänge und Entscheidungen sind also keine kausalen Folgen voneinander sondern ein und dasselbe.

    Es gibt mehr als nur Physik
    Eine Meinung aus der Philosophie

    Brachtendorf ist anders als Mallot der Meinung, gerade der Determinismus müsse davon ausgehen, dass Körper und Geist eins seien: „Diese Leute sagen: menschliches Handeln ist auch nur ein Rädchen in diesem deterministischen Naturgeschehen. Auch das Gehirn ist eingebunden in diesen Prozess, das ist auch nur ein physisches Organ und das funktioniert genauso deterministisch, wie alle anderen physischen Dinge im Universum.“ Letztlich widerspricht er damit der neurowissenschaftlichen Grundannahme und sagt „Nein, ich bin nicht mein Gehirn.“ Laut Brachtendorf würde gerade der Libertarismus einen Dualismus annehmen, denn der Mensch sei ja nicht nur sein Körper: „Im Menschen gibt es noch mehr, es gibt das, was wir das Mentale nennen, oder den Geist könnte man sagen. Dass der Mensch Freiheit besitzt, hat wesentlich damit zu tun, dass er eben nicht nur ein physisches Wesen ist, das im Naturlauf steht, sondern dass er durch seinen Geist herausgehoben ist aus den Kausalketten und von da aus Entscheidungen treffen kann.“ Die Hirnforschung könne diese mentale Ebene auch gar nicht untersuchen, weil sie nur das physische untersuchen kann. Infolge dessen könne sie auch überhaupt keine Aussagen darüber treffen, ob es einen freien Willen gibt. Mit anderen Worten: “Man kann nicht mithilfe der Hirnforschung beweisen, dass es Freiheit gibt.”

    Wir sind hier an einem Punkt angelangt, an dem sich Hirnforschung und Philosophie des Libertarismus nicht einig werden: Bin ich mein Gehirn oder nicht? Also sind Körper und Geist eins oder sind das unterschiedliche Sphären. Es bleibt nun letztlich jedem selbst überlassen, welcher Position er*sie folgen mag.

Autoren



Julia Link
Isabelle Krumrein
Jerome Nguyen