Wieso bin ich, wie ich bin?


Das Geheimnis hinter Charakter und Persönlichkeit


Der Mensch denkt gern in Schubladen – deshalb haben wir wahrscheinlich alle schon einmal einen dieser Persönlichkeitstests in den einschlägigen Klatsch-, Frauen-, oder Teenie-Magazinen ausgefüllt. „Welcher Typ bist du?“ oder „Finde heraus, wer du wirklich bist“ heißt es da verlockend. Die Testergebnisse sind meist simpel und bedienen sich der üblichen Klischees. Aber sind wir wirklich so einfach gestrickt? Wenn es nach den zwei griechischen Ärzten der Antike, Hippokrates und Galen, geht, ja. Die Urheber der klassischen Temperamentenlehre ordneten die Menschen grundsätzlich vier Typen zu: den jähzornigen Cholerikern, den bequemen Phlegmatikern, den lebhaften Sanguinikern und den schwermütigen Melancholikern. Heute gilt die antike Lehre der Charaktertypen als überholt. Durch eine simple Einteilung in vier Typen die gesamte menschliche Vielfalt abbilden zu können, scheint unmöglich. Die Antwort auf die Frage nach dem Ich sucht man heute anderswo – zum Beispiel in der Neurowissenschaft. Die moderne Hirnforschung geht davon aus, dass unsere neuronale Architektur, also die Art und Weise, wie unser Gehirn „verschaltet“ ist, darüber bestimmt, wer wir sind. Neugierig geworden? Wir haben uns auf die Suche nach der Persönlichkeit gemacht und zeigen euch, was die Neurowissenschaft dazu zu sagen hat.

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Alles eine Typfrage?


Aber fangen wir Vorne an: Bei Hippokrates, Galen und ihrer Charaktertypologie.

Ist das denn alles nicht veränderbar?
Die Persönlichkeit in der Neurowissenschaft


„Ist das denn alles nicht veränderbar? Das wäre ja furchtbar! Das will ich mir gar nicht vorstellen.“ Verständlich. Diese Sichtweise ist schließlich schon mehrere hundert Jahre alt und gilt mittlerweile als veraltet. Vielmehr konzentriert sich die Wissenschaft heute auf die Strukturen in unserem Gehirn, um zu erklären, was uns ausmacht. Die Begriffe Charakter, Persönlichkeit oder auch Temperament werden dabei oft synonym verwendet. Durchgesetzt hat sich aber die Bezeichnung „Persönlichkeit“ für das, was uns bestimmt. Was ist also die Persönlichkeit und wie entwickelt sie sich? Ist sie schon über unsere Gene vordefiniert oder wird sie erst durch unser Umfeld geformt? Und kann man die Persönlichkeit eigentlich verändern? Klickt euch durch und entdeckt spannende Theorien zu eurem Gehirn und der Frage, warum ihr so seid, wie ihr seid.

  • Persönlichkeit:
    Die Summe aller Eigenschaften?


  • Den Begriff der Persönlichkeit können Neurowissenschaftler heute noch nicht durch die Beobachtung von Vorgängen im Gehirn fassen. Darum verwenden sie normalerweise die aus der Psychologie stammende Definition des Begriffs. Unter „Persönlichkeit“ versteht man hier alle Eigenschaften, die den Menschen individuell ausmachen und ihn von gleichaltrigen Personen aus demselben Kulturkreis unterscheiden. Dazu zählen die körperliche Erscheinung, das Verhalten und das persönliche Erleben. Im Allgemeinen geht man davon aus, dass über lange Zeit auftretende Eigenheiten die Persönlichkeit ausmachen – Stabilität und Dauerhaftigkeit sind also Kernelemente unseres Verständnisses von Persönlichkeit.

    Nach heutigem Erkenntnisstand weiß man außerdem, dass unser Gehirn mit all seinen ererbten Faktoren anfangs sehr viele Entwicklungsmöglichkeiten hat und erst mit der Zeit eingeschränkter wird. Dadurch, dass wir unser Gehirn nutzen, bilden sich nämlich im Laufe der Jahre immer kompliziertere Verschaltungen, die ein hierarchisches, aber veränderbares System bilden. Dieses bringt immer stabilere Persönlichkeitseigenschaften und Verhaltensmerkmale hervor.

  • Die Vermessung der Persönlichkeit:
    Was sagen Typentests aus?


  • Was wir heute vor allem aus der Rubrik „Selbsttest“ in Teenie-Magazinen kennen, gab es auch schon in der Antike: Die Einteilung von Menschen in Persönlichkeitstypen. Das antike Temperamentenkonzept geht zurück auf die Vier-Säfte-Lehre des griechischen Arztes Hippokrates von Kos. Je nachdem, welche Körpersäfte bei einem Menschen überwiegen, ist er ein trübsinniger Melancholiker, ein aufbrausender Choleriker, ein heiterer Sanguiniker oder ein ruhiger Phlegmatiker. Wissenschaftlich ist diese Einteilung längst überholt. Die Psychologie hat inzwischen neue Kategorien entwickelt, um die Persönlichkeit zu bestimmen. Besonders populär ist das Modell der sogenannten „Big Five“. Durch fünf Dimensionen von Eigenschaften sollen dabei Unterschiede zwischen Menschen erfasst werden: Verträglichkeit, Extraversion, emotionale Stabilität, Gewissenhaftigkeit und Offenheit für Erfahrungen. Die Ergebnisse von Persönlichkeitstests gewinnen Psychologen durch statistische Verfahren, mit denen sie Fragebögen, Verhaltensbeobachtungen oder Experimente auswerten. Ob man durch diese Methoden allerdings ein ganzheitliches Bild der Persönlichkeit bekommt, ist fraglich. Wenn Wissenschaftler verschiedener Fachrichtungen – zum Beispiel der Neurowissenschaft, der Psychologie, der Soziologie und der Politologie – stärker zusammenarbeiten, ist es vielleicht irgendwann möglich, ein stabiles Bild der Persönlichkeit zu zeichnen.

  • Ganz schön oberflächlich:
    Sieht man meinem Gehirn an, wie ich bin?


  • Wenn eine Eigenschaft bei jemandem sehr ausgeprägt ist, sind die dafür zuständigen Regionen in seinem Gehirn oft größer oder besser entwickelt. Besonders die Enge der jeweiligen Verbindungen im Gehirn ist dabei aussagekräftig. Bei Extravertierten sind zum Beispiel alle Areale, die mit sozialer Interaktion zu tun haben, ausgeprägter, wie etwa der mediale Präfrontalkortex. Bei Introvertierten sieht man dagegen, dass vermehrt Angstareale aktiv sind. Solche Unterschiede zwischen Introvertierten und Extrovertierten können Neurowissenschaftler aber meist nur dann sehen, wenn sie die Personen mit bestimmten Situationen konfrontieren, ihnen zum Beispiel einen Film mit sozialen Begegnungen zeigen. Mit Hilfe des Kernspintomographen können sie dann die unterschiedlichen Reaktionen des Gehirns auf den Reiz beobachten. Ob diese Beobachtungen allerdings die Persönlichkeitseigenschaften repräsentieren, können die Wissenschaftler nicht mit Sicherheit sagen. Dazu müsste man eine Person über Jahre hinweg immer wieder untersuchen. Weil der Einsatz von Kernspintomographen sehr teuer ist, hat das bis jetzt aber noch niemand gemacht.

  • Früher oder später:
    Wann bin ich eigentlich so geworden?


  • Die einzelnen Merkmale unserer Persönlichkeit werden in verschiedenen Phasen der Entwicklung unterschiedlich stark geprägt oder beeinflusst. So ist man sich inzwischen ziemlich sicher, dass Phobien und Ängste – beispielsweise vor Tieren, Dunkelheit oder Höhe – bereits im Kleinkindalter entstehen. Wenn man diese Ängste bei Kindern verstärkt, zum Beispiel dadurch, dass man sich ihnen in besonderem Maße zuwendet, können sie auf Dauer stabil bleiben. Kinder, die besonders schreckhaft und schüchtern sind, werden später also eher emotional labil und überdurchschnittlich häufig von Ängsten geplagt sein. Andere psychologische Phänomene, wie zum Beispiel Depressionen, treten dagegen erst wesentlich später auf. Der Anfangspunkt für Depressionen ist nach Meinung vieler Forscher die Pubertät. Davor kann man nicht erkennen, ob jemand später depressiv wird oder nicht. Bei so „einfachen“ und psychiatrisch relevanten Merkmalen wie Angst oder Depressionen kennt man den Zeitpunkt ihrer Entwicklung somit schon ziemlich genau. Für viele andere Eigenschaften jedoch, wie beispielsweise die Extraversion, kann man ihn bisher nicht genau bestimmen.

  • „Ganz die Mama!“
    Alles eine Frage der Gene?


  • Über die Frage, welchen Anteil die Gene an der Persönlichkeit tragen, streitet die Wissenschaft seit langer Zeit. Anfang des 20. Jahrhunderts hat sich die Auffassung durchgesetzt, dass sowohl die Gene als auch Umweltbedingungen und Lernen eine Rolle bei der Persönlichkeitsentwicklung spielen. Neurowissenschaftler gehen davon aus, dass bei sehr stabilen Eigenschaften, wie beispielsweise der politischen Einstellung, die genetische Beteiligung bei etwa fünfzig Prozent liegt.

    Für einige Persönlichkeitsmerkmale konnte man Genkonfigurationen identifizieren, die vorhanden sein müssen, damit sich die Eigenschaft entwickeln kann. Bei einem großen Teil der Merkmale tappt die Wissenschaft allerdings noch im Dunkeln und die Frage ihrer Herkunft ist ungeklärt. Und da gibt es noch ein weiteres Problem: Selbst wenn man weiß, welche Gene an welchen Persönlichkeitsmerkmalen beteiligt sind, man also die „Angriffspunkte“ kennt, kann man die Persönlichkeit dadurch noch lange nicht verändern – schließlich kann man die identifizierten Gene nicht einfach austauschen. Die Genetik, die viele Jahre als Schlüssel zur Persönlichkeit und vor allem zur Beeinflussung der Persönlichkeit galt, kann diese Hoffnung wohl nicht erfüllen.

  • Frei wie ein Vogel:
    Kann ich werden, was ich will?


  • Diese Frage stellen sich sowohl Philosophen als auch Naturwissenschaftler seit vielen Jahren. Ein Teil der Forscher geht davon aus, dass der Mensch als „tabula rasa“ auf die Welt kommt, zwar mit gewissen genetischen Konfigurationen, aber prinzipiell als unbeschriebenes Blatt, auf dem sich im Laufe der Jahre erst eine Persönlichkeit abzeichnet. Andere vertreten die Meinung, dass ein Großteil unserer Persönlichkeitsmerkmale schon genetisch „vorprogrammiert“ und nur noch in beschränktem Maße beeinflussbar ist. In jedem Fall aber werden viele Grundlagen dafür, wie wir später werden, bereits sehr früh gelegt – ob in den ersten Lebensjahren oder sogar schon vor der Geburt.

    Im Grunde kann der Mensch alles werden und lernen, was das Gehirn leisten kann. Und da ist wirklich viel Spielraum. Absolut frei sind wir aber alle nicht, denn wir haben alle eine Umgebung, die uns in eine bestimmte Richtung drängt und prägt. Da auszubrechen, ist oft schwierig, aber im Prinzip möglich. Jedem Menschen stehen vermutlich mehr Möglichkeiten offen, als er sich bewusst ist, denn: Viele Gehirnzellen werden im ganzen Leben nie genutzt. Teile unseres Gehirns liegen einfach brach und warten darauf, aktiviert zu werden. Diese stillen Nervenzellen kann man das ganze Leben lang aktivieren und ihre verborgenen Potenziale nutzen. So können auch alte Leute im Prinzip noch ganz viele neue Dinge lernen. Doch leider wissen selbst Forscher nicht genau, wo diese Zellen liegen – denn bei jedem sind sie woanders.

  • Du bist, wo du lebst:
    Wie stark prägt uns unsere Umgebung?


  • Unser Gehirn funktioniert generell als Spiegel der Umgebung. Es hat als Organ die Aufgabe, die Umgebung aufzunehmen, Reaktionen an den Körper abzugeben und dazwischen die Reize von außen zu verarbeiten. Das Gehirn spiegelt dabei immer das wieder, was gerade da ist und scheidet als Reaktion auf die Umwelt Gedanken und Verhalten aus. Dies hinterlässt natürlich auch Spuren in der Entwicklung unserer Persönlichkeit. Entscheidend ist dafür aber weniger die geografische Umgebung als vielmehr das soziale Umfeld, in dem sich die Person bewegt.

  • Abgeguckt!
    Welche Modelle prägen uns?


  • Wie sich unsere Persönlichkeit entwickelt, hängt stark davon ab, welche sozialen Modelle wir in unserer Umgebung finden. Vor allem das Elternhaus prägt uns dabei nachhaltig. Nehmen wir das Beispiel Introversion. Diese Eigenschaft geht mit Ängstlichkeit einher. Extravertierte hingegen fühlen sich sicherer, sind sozialer. Warum dann ein Introvertierter nicht extravertierter wird, obwohl er es gerne wäre? Weil die Bedingungen dazu nicht da sind. Die Eltern eines Schüchternen sind meist auch introvertiert; von zu Hause kennt er also nur dieses Modell. In der Schule sieht er vielleicht noch andere Modelle, aber den prägendsten Einfluss hat meist doch die Familie – der Ort, wo man lebt. Entwicklungspsychologen können aber auch Fälle nennen, in denen ein schüchternes Kind in der Pubertät plötzlich zu einem enorm extravertierten Menschen wird. Wenn die Umgebungsbedingungen so eine Veränderung belohnen, dann ist sie auch durchaus möglich.

  • Heiraten und Auswandern!
    Und ungeliebte Eigenschaften bleiben daheim?


  • Auch später im Leben kann unser direktes Umfeld unser Handeln noch immens beeinflussen. So können radikale Veränderungen wie Umgebungswechsel im Gehirn vieles bewirken. „Wenn ein Abhängiger heiratet oder vom Schwabenland nach Südamerika verpflanzt wird, kann er am selben Tag die Droge absetzen – ohne jede Abstinenzerscheinung“, sagt der Neurowissenschaftler Professor Niels Birbaumer von der Universität Tübingen.

    Neuronal erklärt sich das so: Ist ein bestimmtes Verhalten im Gehirn mit den Belohnungsarealen verknüpft, so werden Glückshormone ausgeschüttet, wenn wir dieses Verhalten ausüben. Das Ergebnis: Wir fühlen uns gut. Wahrscheinlich werden wir es also wieder tun. Und wieder. Das gilt auch für das Konsumieren von Drogen. Die Verbindungen in unserem Hirn bestimmen also unsere Gewohnheiten. Diese Verbindungen können sich jedoch auflösen, wenn wir in eine neue Umgebung kommen. Die Bedingungen verändern sich, die Belohnung kommt vielleicht plötzlich nicht mehr von der Droge. Natürlich hat ein Drogenabhängiger einige Verknüpfungen schon irreversibel geschädigt. „Aber bei den Milliarden von Nervenzellen und den hundert Milliarden Verbindungen, die wir haben, ist es in der Regel kein Problem, Teile im Gehirn zu finden, die innerhalb von Stunden neue Verbindungen knüpfen“, erklärt Professor Birbaumer. „Andererseits ist es absurd, Drogenabhängige zur Therapie auf einen Bauernhof zu bringen, wo sie dann ein Jahr lang abstinent sind – und wenn sie zurückkommen sofort wieder Drogen nehmen.“

  • Das Streben nach Glück:
    Wer will sich verändern?


  • Nobody is perfect, heißt es. Die eine oder andere Macke hat wohl jeder von uns. Kaum einer scheint rundum zufrieden mit seiner eigenen Persönlichkeit. Das ist jedoch weltweit ganz unterschiedlich. Abhängig davon, in welcher Gesellschaft wir leben – vor allem davon, wie festgelegt unsere Rollen in dieser Gesellschaft sind – haben wir mehr oder weniger Anlass, uns selbst zu hinterfragen. Je freier wir sind, desto eher sind wir auch selbst dafür „verantwortlich“, zu wem wir uns entwickeln – und desto eher sind wir auch unzufrieden mit dem eigenen Charakter. In Ländern wie unserem, in denen es die Möglichkeit zur Änderung gibt, werden die Leute auch nach dieser Veränderung suchen.

  • „Du bist ja ein ganz neuer Mensch!“
    Wie kann sich Charakter ändern?


  • Ist jemand ungeduldig oder ängstlich, so spiegelt sich das auch in seinem Gehirn. Die moderne Wissenschaft ist imstande, die dabei aktiven Hirnareale durch Betrachtung im Kernspintomographen zu identifizieren. Theoretisch könnte man an den entsprechenden Stellen Elektroden ins Gehirn einpflanzen. Die Person bekäme dann ein kleines Gerät mitgegeben und jedes Mal, wenn das Verhalten hervorgerufen oder verhindert werden soll, drückt sie auf einen Knopf. Das ist im Prinzip heute möglich. Ethische Gründe verbieten solche radikalen Behandlungen natürlich. In der Psychiatrie arbeitet man mit Psychopharmaka allerdings ebenfalls invasiv, um Verhaltensänderungen zu erzielen. Doch auch mit Lernvorgängen kann man vieles verändern, zum Beispiel mit einer verhaltenstherapeutischen Strategie. „Man muss eben nur intensiv trainieren, man muss das Training auf die Leute abstimmen. Wie weit da die Grenzen gesteckt sind, wissen wir gar nicht – und sie sind immer erstaunlich viel weiter, als wir gedacht haben“, so der Neurowissenschaftler Birbaumer. Auch ohne mit „Gewalt“ vorzugehen, kann man also dauerhafte Veränderungen im Gehirn erreichen.

Das Böse im Gehirn

Die Neurowissenschaft ist eine junge Wissenschaft. Während sie zu vielen psychologischen Phänomenen schon Erkenntnisse liefern konnte, steckt sie im Feld der Persönlichkeitsforschung aber noch in den Kinderschuhen. Es bleibt also spannend, welche Entdeckungen die Forscher in den nächsten Jahren machen werden. Ein Thema hat dabei ihr besonderes Interesse geweckt: das „Böse“ in unserem Gehirn. Werden wir als „gut“ oder „böse“ geboren? Und sehen die Gehirne von Verbrechern anders aus?

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Autoren



Natalie Steinmann
Michaela Göbels
Anne-Mareike Täschner